Russland und NATO werfen sich in den letzten Monaten verstärkt gegenseitige Bedrohung vor. Wie begründen sie dies?
Gegenseitige Bedrohung von Russland und NATO wächst?
Die politischen Spannungen zwischen Russland und der NATO nehmen offensichtlich immer mehr zu. Nicht erst seit Russland seine Atomdoktrin überarbeitete, behaupten Politiker und Medien der NATO, dass Russland die euro-atlantische Sicherheit bedroht. Demgegenüber sieht Russland die spätestens seit Mitte der 90er Jahre stufenweise verlaufende NATO-Ost-Erweiterung und -Aktivitäten als Risiko für die eigene Sicherheit, was seinerzeit selbst führende NATO-Politiker befürchteten. Doch welche rechtlichen und politischen Aspekte stehen hinter den gegenseitigen Anschuldigungen?
NATO-Begründungen für die Bedrohung durch Russland
- Das Krim-Referendum und der Beitritt der Krim zu Russland
Die NATO betrachtet die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation im Jahr 2014 als völkerrechtswidrig. Nach Ansicht westlicher Staaten wurde die territoriale Integrität der Ukraine verletzt, wie in der Charta der Vereinten Nationen festgelegt. Russland hingegen argumentiert, dass die Annexion der Krim auf einem demokratischen Referendum basiert, bei dem rund 90 % der Wähler für den Anschluss an Russland gestimmt hätten.
Es gibt jedoch unterschiedliche Auffassungen unter Völkerrechtlern: Während einige das Referendum als Verstoß gegen die ukrainische Verfassung ansehen, bewerten andere es als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Aus dieser Entwicklung allerdings eine Bedrohung der NATO-Staaten durch Russland abzuleiten, dürfte etwas weit hergeholt sein – oder? - Russlands militärisches Engagement in der Ukraine
Die sogenannte „spezielle Militäroperation“ wird von Russland als Verteidigung gegen die Bedrohung durch die NATO und den Schutz russischsprachiger Bevölkerungen in der Ostukraine begründet. Westliche Staaten und die NATO hingegen bewerten diese Operation als völkerrechtswidrige Aggression. Die rechtliche Bewertung bleibt kontrovers, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob die NATO oder die Ukraine zuvor gegen völkerrechtliche Verträge verstoßen haben könnten oder ob die Militäroperation zumindest provoziert wurde. - Nukleare Eskalation und Militärmanöver
Russland wird vorgeworfen, durch die Anpassung seiner Nukleardoktrin und durch groß angelegte Militärübungen in Grenzregionen eine Eskalation zu fördern. Die NATO hat darauf mit verstärkten Manövern wie „Steadfast Noon“ reagiert, die das Ziel haben, eine nukleare Abschreckung zu gewährleisten – als ob vor 2022 keine Manöver zur nuklearen Abschreckung durchgeführt wurden. - Verstöße gegen Verträge
Russland und die NATO werfen sich gegenseitig Verstöße gegen Verträge wie die NATO-Russland-Grundakte (1997) vor, die die militärische Präsenz in Osteuropa regulieren sollte. Während die NATO betont, dass ihre Aktivitäten defensiver Natur seien, sieht Russland in der Präsenz von NATO-Truppen in osteuropäischen Ländern eine Verletzung dieser Vereinbarung (siehe oben).
Russland: Bedrohungsszenarien durch die NATO
- Die NATO-Erweiterung
Russland kritisiert die Osterweiterung der NATO seit den 1990er-Jahren als Bruch früherer informeller Zusicherungen westlicher Staaten, dass die NATO ihre Grenzen nicht ausweiten würde. Der Beitritt osteuropäischer Staaten wie Polen und der baltischen Länder wird von Russland als geopolitische Einkreisung gewertet (siehe oben). - Stationierung von Atomwaffen
Die nukleare Teilhabe der NATO, bei der Atomwaffen in Europa stationiert sind, wird von Russland als Bedrohung für die eigene Sicherheit wahrgenommen. Der Verzicht der USA auf eine „No First Use“-Politik, die den nuklearen Ersteinsatz ausschließen würde, verstärkt diese Sorgen. - Unterstützung der Ukraine
Die militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine durch die NATO-Staaten (US-Außenminister Antony Blinken sprach von insgesamt 50 Staaten) wird von Russland als eine Art indirekte Kriegsbeteiligung betrachtet. Dies unterstreicht Moskaus Wahrnehmung, dass die NATO ihre Neutralität gegenüber dem Konflikt aufgegeben hat. - Informationskrieg und Desinformation
Russland wirft den NATO-Staaten vor, durch gezielte mediale Kampagnen einseitige Narrative zu verbreiten und die geopolitischen Interessen Russlands zu diskreditieren, was unter anderem auch Scott Horton mit seinem jüngsten Buch „Provoked“ anhand von über 7.000 Zitaten belegt. Gleichzeitig wird Russland vorgeworfen, Desinformation einzusetzen, um eigene Handlungen zu rechtfertigen.
Völkerrechtliche Verträge: Wer hat welche verletzt?
- Verletzung der UN-Charta: Die Annexion der Krim wird von der NATO als Bruch der UN-Charta interpretiert, während Russland dies mit dem Selbstbestimmungsrecht begründet.
- NATO-Russland-Grundakte: Beide Seiten werfen sich Vertragsverletzungen vor. Die NATO argumentiert, ihre Verstärkungen seien eine Reaktion auf Russlands aggressive Politik. Russland sieht dies als Bruch der Vereinbarung, keine dauerhaften Truppen in Osteuropa zu stationieren.
- Budapester Memorandum (1994): Die Ukraine verzichtete im Gegenzug für Sicherheitsgarantien auf Atomwaffen. Russland wird vorgeworfen, diese Vereinbarung durch die Annexion der Krim und den Krieg in der Ukraine gebrochen zu haben.
Fazit: Dialog als einzige Lösung?
Die gegenseitigen Anschuldigungen zwischen Russland und der NATO zeigen, wie tief die Konflikte verwurzelt sind – nicht nur in aktuellen Ereignissen, sondern auch in historischen und rechtlichen Differenzen. Während jede Seite die andere als Bedrohung wahrnimmt, bleibt die Notwendigkeit eines Dialogs offensichtlich. Vertrauen kann nur durch transparente Kommunikation und die Einhaltung internationaler Verträge wiederhergestellt werden. Eine friedliche Lösung ohne Kompromisse ist kaum möglich.