Oktober 31, 2023

Gaza-Israel-Katastrophe

„Was führte zur Gaza-Israel-Katastrophe? Der Alptraum nach 50 Jahren gescheiterter Militärpolitik“ lautet ein Artikel von Dr. Dan Steinbock.

„Gaza-Israel-Katastrophe“ fiel nicht aus heiterem Himmel

Die „Gaza-Israel-Katastrophe fiel nicht aus heiterem Himmel. Sie kann auch nicht über Nacht beendet werden, schon gar nicht mit gewaltsamen Mitteln. Diese Ansicht vertrat Dr. Dan Steinbock, in einem Artikel auf The World Financial Review am 19. 10.2023.

„Der Hamas-Israel-Krieg ist nicht aus heiterem Himmel entstanden. Und er ebnet nicht nur den Weg für die Zerstörung der Hamas oder einen höllischen Bodenangriff. Er zielt auf die Verwüstung des Gazastreifens ab und könnte im Laufe der Zeit zu Vertreibungen im Westjordanland führen. Der Krieg wird die Gewalt in und um Israel anheizen. Er könnte in der gesamten Region eskalieren. Er spiegelt das Scheitern von 50 Jahren amerikanischer Geopolitik in der Region wider und wird die globalen wirtschaftlichen Aussichten weiter verschlechtern.

Weder Apartheid noch Gewalt können im frühen 21. Jahrhundert einen dauerhaften Frieden sichern. Was wir brauchen, ist multilaterale Zusammenarbeit und multipolare Diplomatie in der Region – bevor es zu spät ist.“

Von den westlichen Politikern und Medien wird vor allem der brutale Überfall der Hamas am 07. 10. 2023 verurteilt. Deshalb habe der israelische Staat das Recht auf Selbstverteidigung. Das widerspiegelt sich auch im Abstimmungsverhalten in der UN-Vollversammlung am 27. 10. 2023.

Gaza-Israel-Katastrophe - UNO-Vollversammlung 27.10.2023

Mit einer Mehrheit von 120 Stimmen forderten die UNO-Mitglieder eine „sofortige humanitäre Waffenruhe“ im Gazastreifen. 14 Staaten stimmten dagegen, 45 Staaten enthielten sich – darunter auch Deutschland. Bundeskanzler Scholz begründete die Stimmenthaltung laut Tagesschau vom 30. 10. 2023:

„Eine brutale mörderische Aggression der Hamas, die viele Menschen, Kinder, Babys, Großväter und Großmütter getötet hat“, betonte Scholz. „Das kann nicht akzeptiert werden und wir werden Israel ganz deutlich dabei unterstützen, seine eigene Sicherheit zu verteidigen.“

Lassen wir dahingestellt, ob das eine Stimmenthaltung zur Forderung nach „sofortiger humanitärer Waffenruhe“ rechtfertigt. Steinbock lenkt die Aufmerksamkeit vor allem darauf, dass der Hamas-Angriff eine willkommene Rechtfertigung für die rechtsextreme Regierung von Benyamin Netanyahu darstellt. Der israelische Staat habe die Unterdrückung der Palästinenser verschärft, seit sich die internationale Aufmerksamkeit auf den Stellvertreterkrieg in der Ukraine konzentriert. Dass sei für Netanjahu „ein Geschenk des Himmels“. Denn seit den 90er Jahren habe Netanjahu selbst zur Gründung der Hamas beigetragen. Die seit mehr als fünf Jahrzehnten anhaltenden strategischen Spannungen wurden seit Ende 2022 „durch das rechtsextremste Kabinett in der Geschichte Israels noch beschleunigt“.

Kräfteveränderung im israelischen Kabinett

Seine Begründung für diese Wertung stützt Steinbock u.a. darauf, dass im Juli der ehemalige Mossad-Chef Tamir Pardo Premierminister Benjamin Netanjahu vorwarf, er habe Parteien in seine Regierung geholt, die „schlimmer als der Ku-Klux-Klan“ seien. Dafür ständen beispielsweise der Minister für die Nationale Sicherheit Israels Itamar Ben-Gvir, der Finanzminister Bezazel Smotrich (siehe auch hier oder hier) und der Minister für nationale Infrastruktur, Energie und Wasser Israel Katz.

Netanjahus „Justizreform“, mit der die Befugnis des Obersten Gerichtshofs zur richterlichen Überprüfung eingeschränkt und der Regierung die Kontrolle über die Ernennung von Richtern übertragen wird, verstoße gegen die Gewaltenteilung in einer Demokratie und löste einen politischen und verfassungsrechtlichen Aufruhr aus.

Siedlungspolitik gegen Palästinenser

Inbesondere die Siedlungspolitik seit 1967 wurde zwar „mit nationalen Sicherheitsinteressen legitimiert und durch den massiven Waffenhandel und die ‚Big Defense‘ der USA angeheizt“. Doch trotz der Friedensbewegung und Kritiken der internationale Gemeinschaft setzten die Falken unter den Verfechtern der nationalen Sicherheit die Siedlungspolitik durch.

Nach dem Sechstagekrieg von 1967 besetzte Israel das Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalem, den Gazastreifen und die Golanhöhen. Seitdem hat Israel seinen Bürgern erlaubt, in diesen Siedlungen zu leben, und sie sogar dazu ermutigt, oft aus religiösen, ultra-ethnischen und ultra-nationalistischen Gefühlen heraus, die mit der jüdischen Geschichte und dem Land Israel verbunden sind…

Nichts hat die stetige Expansion der Siedler seit den späten 1960er Jahren und die Expansion der Israelis in Ostjerusalem gestoppt“.

Ausdehnung der jüdischen Siedler im Westjordanland, 1967-2021 (Quelle: ICBC zitiert nach D. Steinbock)

Die terroristische Siedlungspolitik verfolgten besonders aus den USA stammende und geförderte Politiker. Steinbock schreibt:

„Nach einem Treffen in Jerusalem Mitte der 70er Jahre mit dem in den USA geborenen Rabbiner Meir Kahane, dem rechtsextremen ultranationalistischen Politiker und späteren Mitglied der Knesset bis zu seiner Verurteilung wegen Terrorismus, hatte ich keine Zweifel mehr an diesen extremistischen Bestrebungen. Nachdem er in den USA die rechtsextreme Jewish Defense League mitbegründet hatte, gründete Kahane in Israel die ultra-radikale Kach. Beide setzten Terror ein, um ihre Ziele zu erreichen. In den späten 1950er Jahren hatte Kahanes fanatischer Antikommunismus ihn zu einem ‚Informanten‘ des FBI gemacht. In den 70er Jahren befürwortete er die ethnische Säuberung der Palästinenser. Damals sagte er: ‚Jeden Tag kommen die Araber in Israel der Mehrheit näher. Israel sollte sich nicht zum nationalen Selbstmord verpflichten. Warum sollten wir zulassen, dass Demografie, Geografie und Demokratie Israel näher an den Abgrund bringen?‘

Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der so voller Hass war, und erwartete, dass Kahane gewaltsam sterben würde.“

„Israelische Friedensbewegung“ gegen Siedlungspolitik

Doch die israelische Bevölkerung stehe nicht einhellig hinter dieser Siedlungspolitik. Zudem zeigten die Bürgerproteste gegen die „Justizreform“ zunehmende Differenzen zwischen Regierung und Teilen der Bevölkerung. Die Differenzen in der israelischen Bevölkerung reichen viel weiter zurück. Steinbock erinnert sich an die Entwicklung der israelischen Friedensbewegung:

„Zu den führenden Köpfen der Friedensbewegung gehörte die Schriftstellerin Yael Dayan, die Tochter des Generals Moshe Dayan und spätere Labor-Politikerin und Feministin. Wie schon 1973 sagte Dayan kürzlich, dass ‚es keinen echten und dauerhaften Frieden gibt und geben kann, der sich mit der massiven Kolonisierung der besetzten palästinensischen Gebiete vereinbaren lässt‘. Nach Gesprächen mit ihr schloss ich mich der Bewegung und den Protesten an. Ich sah in den Siedlungen eine Zeitbombe, die die israelische Demokratie untergraben, die jüdischen und arabischen Bürger Israels und die Palästinenser gefährden, sich zu einer Apartheid entwickeln und einen Zyklus von ‚ewigen Kriegen‘ mit den arabischen Nachbarn auslösen könnte.“

USA-Israel-Bündnis

Nach dem Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 rückten die USA in die Position des stärksten Förderers und Unterstützers Israel auf, besonders auf militärischem Gebiet.

„Die wirtschaftliche und militärische Hilfe der USA stieg erst nach dem Krieg von 1973 sprunghaft an. Bis 2002 war Israel der größte Empfänger von US-Hilfe, und mit dem Irak, Afghanistan und der Ukraine gehört es weiterhin zu den drei größten Empfängern. Die USA haben Israel über 260 Milliarden Dollar an Militär- und Wirtschaftshilfe und weitere 10 Milliarden Dollar für Raketenabwehrsysteme zur Verfügung gestellt.“

Mehrere Jahrzehnte properierte Israel wirtschaftlich. Nunmehr hätten sich auch hier wie in den USA und anderen westlichen Ländern die Tendenzen verschoben und die Polarisierung verschäft. Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich schon vor dem Angriff der Hamas. Die Inflationsrisiken stiegen an. Beide Risiken spitzen sich weiter zu.

„Schlimmer noch: Aufgrund der neoliberalen Wachstumspolitik, die Netanjahu seit langem befürwortet, ist die Ungleichheit in Israel im Vergleich zu anderen OECD-Ländern relativ hoch … Im Mai warnten 280 hochrangige Wirtschaftswissenschaftler, dass die Haushaltszuweisungen der Regierung an die ultrareligiösen Haredi-Gruppen im Gegenzug für ihre Unterstützung der Koalition ‚Israel langfristig von einem fortschrittlichen und wohlhabenden Land in ein rückständiges Land verwandeln werden‘. Die mit der vorgeschlagenen Justizreform verbundenen wirtschaftlichen Rückwirkungen haben sich bereits in einer massiven Kapitalflucht und einem starken Rückgang ausländischer Investitionen manifestiert, was zu einer Währungsabwertung, einem trägen Aktienmarkt, einem Rückgang der Steuereinnahmen und einer steigenden Staatsverschuldung geführt hat.“

Die Netanjahu-Regierung und die hinter ihr stehenden Finanziers spekulierten wohl darauf, dass die Verwüstung des Gazastreifens zu einer Massenausvertreibung der Bewohner des Gazastreifens führe.

„Daher die Vorliebe für die Dahiya-Doktrin, die der ehemalige IDF-Chef Gadi Eizenkot im Libanon-Krieg 2006 und im Gaza-Krieg 2008/9 skizzierte. Sie basiert auf der Zerstörung der zivilen Infrastruktur von ‚feindlichen Regimen‘.

‚Was 2006 im Dahiya-Viertel von Beirut geschah, wird in jedem Dorf geschehen, von dem aus Israel beschossen wird… Wir werden dort unverhältnismäßige Gewalt anwenden und großen Schaden und Zerstörung anrichten. Aus unserer Sicht handelt es sich nicht um zivile Dörfer, sondern um Militärbasen… Dies ist keine Empfehlung. Dies ist ein Plan. Und er ist genehmigt worden.'“

Völkerrechtler bezeichnen die Dahiya-Doktrin als „Staatsterrorismus“ bezeichnet. Sie führe im Gaza-Streifen zunehmend zu einer Katastrophe historischen Ausmaßes.

Geheimdienstversagen oder zielgerichtete Politik?

Für Steinbock ist weder ein „Geheimdienstversagen“ Israels noch eine Erzfeindschaft zwischen Israel und Hamas hinreichend überzeugend. Videobeweise aus den letzten beiden Jahre würden zeigen, dass Hamas-Kämpfer für die brutalen Angriffe an mindestens sechs Orten im Gazastreifen und in Sichtweite der stark überwachten Grenze Israels trainierten. Vielmehr vergleicht er Israels Strategie mit der Operation Cyclone:

„So wie die Operation Cyclone die USA dazu veranlasst hatte eine Generation islamistischer Fedayeen in Afghanistan auszubilden, zu bewaffnen und zu finanzieren Afghanistan, darunter Osama Bin Laden, auszubilden und zu finanzieren, dachten die Israelis, sie könnten die Hamas nutzen; nicht, dass die Hamas sie nutzen könnte.

Außerdem dient der Krieg in Gaza als Eskalation der Siedlerausbreitung und der Gewalt im Westjordanland Westjordanland, von dem Netanjahus rechtsextreme Minister hoffen, dass es zu einer Annexion und Vertreibung der Palästinenser führen würde.“

Die Entwicklung im Gazastreifen diene aber auch der Rechtfertigung, mit denen die Falken in den USA ihre Kriegspolitik gegen den Iran aktivieren. Steinbock verweist in dem Zusammenhang auf die TIRANNT (Theater Iran Near Term)-Kriegsplanung, die nach 2003 von der Bush-Regierung entwickelt wurde. Zudem diene die ebenfalls nach 2003 weiterentwickelte „Global Strike“-Strategie (CONPLAN 8022) dazu, den Einsatz von Nuklearwaffen zu erwägen, wenn die Abschreckung kurz vor dem Scheitern stünde.

Für Netanjahus Regierung wäre eine Ausweitung des Konflikt zwischen den USA und dem Iran willkommen. Sie lenke die Aufmerksamkeit von Gaza und dem Westjordanland ab.

„Vor einem Monat schwor Netanjahus Mossad-Chef David Barnea parallel zu den Turbulenzen am Obersten Gerichtshof, die ‚höchste Ebene‘ des Irans ins Visier zu nehmen, falls israelische Juden durch Terror verletzt würden.

Auch die Regierung Biden hat der Versuchung nicht widerstanden, den Krieg und ihre ‚Solidarität mit Israel‘ als Demonstrationseffekt für andere Krisenherde zu nutzen … Es ist der liturgische Begriff, den das Weiße Haus im Zusammenhang mit Japan, Taiwan, der Ukraine, den Philippinen und anderen wichtigen Nicht-NATO-Verbündeten der USA verwendet hat, die sich zu gemeinsamen Verteidigungszielen, Militärbasen und Waffenkäufen von US Big Defense, wie Raytheon, Austins ehemaligem Arbeitgeber, verpflichtet haben.“

Gaza-Israel-Katastrophe beenden

Steinbock schließt seinen mit zahlreichen Fußnoten belegten und lesenswerten Artikel:

„Ein halbes Jahrhundert der Kriege, der Kolonisierung und der Apartheid wird der Region niemals Frieden bringen, sondern mit Sicherheit für mehr Verzweiflung, mehr Kriege und mehr tote und verletzte Zivilisten sorgen. Was wir in der Region brauchen, ist multilaterale Zusammenarbeit und multipolare Diplomatie.

Es ist an der Zeit, Frieden und Entwicklung eine Chance zu geben – bevor es zu spät ist.“


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Thomas Schulze


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