Querdenker – was ist das? Kurzer Rückblick, wie ein progressiv belegter Begriff medial zum Schimpfwort umprogrammiert wurde.
Querdenker – Martenstein erinnert sich
Aus der Kolumne von Harald Martenstein über Zustimmung im Internet, ndr-kultur.de, 03.12.2020
„Manchmal denke ich, es ist ein Volkserziehungsprogramm. Sie möchten, dass man sich dran gewöhnt allem zuzustimmen. ‚Einverstanden‘ ist mein Wort des Jahres.
Kinder, wisst ihr, aus welcher Epoche ich komme?
Alles haben wir als junge Bubis abgelehnt. Alles. Es ist schwierig für Typen wie mich, sich aufs Dauerjasagen umzustellen.
Denn. Am Anfang meines Kolumlistenlebens habe ich mal was Ironisches über das
karrierefördernde Wort ‚Querdenker‘ geschrieben. Jeder, wirklich jeder wollte damals ein Querdenker sein: Walter Jens, Franz Alt, Heiner Geißler, Hoimar von Ditfurt.Querdenker war ein Männerberuf. Wie Hufschmied.
Für Frauen wurde eher das Adjektiv „streitbar“ verwendet. Streitbare Theologinnen waren ein Massenprodukt wie der VW-Käfer.
Zur Belohnung fürs Querdenken und streitbar sein gab es in der Regel eine Professur, oder eine Fernsehsendung, oder beides. Wer heute eine Professur will, denkt besser schnurgerade.
Insgesamt hat das Q-Wort, wegen der Corona-Demos, eine mediale Umwertung erfahren. Als Nachfolger der fast ausgestorbenen ersten Querdenkergeneration kommen heute im Fernsehen queere Menschen zum Einsatz.
Es gab mal beim STERN die Aktion ‚Ich habe abgetrieben‘. Lauter Geständnisse. Wie wär es denn mal mit einer Aktion ‚Ich war streitbar‘?
Hin und wieder sehne ich mich nach Talkshows, in denen die Konflikte dieser Gesellschaft knallhart ausgetragen werden. Rechts gegen links oder Alice Schwarzer gegen Verona Feldbusch. Das gab es ja mal.
Kürzlich traf ich jemanden, der wie ich im Fernsehen bei Dieter Nuhr aufgetreten ist, einer Endmoräne des Querdenkens. Dieser Gast kriegt Druck im Netz. er soll nie mehr zu Nuhr gehen, soll geradeaus denken.
Ich dachte: Wie unglaublich liberal ist doch dieses Land – sagen wir mal 1980 gewesen.“
Zum Verständnis für Jüngere und Ältere, die sich nicht mehr erinnern: