Der Denkzettel
Ein Schüler musste wegen völlig natürlichen Verhaltens ein demütigendes Frageformular ausfüllen — nun erhält die Lehrkraft ihrerseits einen Denkzettel.
von Gabriele Herb
In den letzten Wochen ging ein „Denkzettel“ viral, den ein Schulkind wegen eines Vergehens gegen die Maskenpflicht ausfüllen musste. Darin sollte es ausführen, was es falsch gemacht sowie welche Regeln es verletzt habe, ob und bei wem es sich entschuldigen solle und was es in Zukunft besser machen werde. Wenngleich der Autorin klar ist, dass auch Lehrer nur Menschen sind, dass sie auch schlechte Tage haben und manchmal aus Hilflosigkeit Dinge sagen oder tun, die ihnen später leidtun, hat sie dieser Denkzettel sehr empört. Denn hier handelt es sich nicht um eine spontane Fehlreaktion eines Lehrers, die entschuldbar ist — hier geht es um eine geplante und durchdachte „Erziehungsmaßnahme“, die aus dem vorvorigen Jahrhundert zu stammen scheint.
Nicht genug damit, dass dieses Kind wie Millionen andere Kinder und Jugendliche das Versagen der Politik ausbaden muss — durch Lockdowns, Schulschließungen, Abstandhalten und so weiter — es wird nun auch dafür bestraft und gedemütigt, dass es tut, was Kinder nun mal tun: Es war „pflichtvergessen“, verlor sich im Spiel, hat einen Augenblick nicht an die Maske gedacht.
Hier nun ein „Denkzettel“ für die Lehrkraft, die sich schuldig gemacht hat an diesem Kind, das einfach nur Kind war.
Was hast Du falsch gemacht?
Ich habe Kinder gedemütigt und für ihr Kindsein bestraft. Ich habe sie traumatisiert, indem ich sie für etwas verantwortlich gemacht habe, wofür sie nichts können. Ich habe das Wohl der Verletzlichsten, Schutzlosesten unserer Gesellschaft, derer, die ihr Leben noch vor sich haben, dem Wohl derer hintangestellt, die für sich sprechen können und die ihr Leben bereits gelebt haben. Ich habe in meinem Tun weder Mitgefühl noch Respekt, weder Achtung noch Menschlichkeit walten lassen.
Folgende Regel habe ich nicht eingehalten:
Ich habe die UN-Kinderrechtskonvention in folgenden Punkten verletzt:
Ich habe das Diskriminierungsverbot nicht geachtet, indem ich Schutzbefohlene, die keine Masken tragen, öffentlich zur Schau gestellt und gedemütigt habe (§ 2).
Ich bin dem Wohl der Kinder nicht gerecht worden, indem ich sie nicht behütet und geschützt, sondern ausgegrenzt und das Klassenzimmer für diese Kinder zu einem unsicheren, angsterfüllten Ort gemacht habe (§§ 3 und 18).
Ich habe den Kindeswillen missachtet, weil ich das Bedürfnis meiner Schutzbefohlenen nach Leichtigkeit und Unbeschwertheit nicht berücksichtigt habe (§ 12).
Ich habe meine Schutzbefohlenen nicht vor Gewaltanwendung und Misshandlung geschützt — ja, ich habe selbst Gewalt gegen sie angewendet: physische Gewalt, indem ich ihnen Masken aufgezwungen habe, die nachweislich gesundheitsschädlich sind, und psychische Gewalt, indem ich sie öffentlich ausgegrenzt und gedemütigt habe (§ 19).
Ich habe ihr Recht auf Gesundheitsvorsorge sträflich vernachlässigt, indem ich Umstände mit geschaffen, toleriert und aktiv durchgesetzt habe, die Kinder nachweislich krank machen (§ 24).
Ich torpediere ihr Recht auf Bildung, indem ich die Schule zu einem Ort der Angst, der Demütigung und der Bestrafung gemacht habe, obwohl mir bewusst ist, dass Bildung und Lernen nur in einer Umgebung möglich sind, in der das Kind sich behütet und sicher fühlt und Freude empfinden kann (§ 28).
Bist Du der Meinung, dass Du Dich bei jemandem entschuldigen musst:
Ja, bei den Kindern und ihren Eltern sowie bei der Gesellschaft als Ganzes, weil diese die nächsten Jahrzehnte die Folgen meines Tuns zu spüren bekommen werden. Ich habe dazu beigetragen, dass Kinder Ausgrenzung statt Miteinander, Gnadenlosigkeit statt Mitgefühl, Kälte statt Empathie erfahren haben. Ich habe ihnen die Möglichkeit verwehrt, für das soziale Miteinander so wichtige Eigenschaften wie Toleranz, Großzügigkeit, Einfühlungsvermögen bei mir als ihrem Vorbild zu lernen. Somit habe ich dazu beigetragen, dass sie diese auch anderen Menschen nicht entgegenbringen können werden.
Was nimmst Du Dir die nächste Zeit vor?
Ich werde mich auf das zurückbesinnen, was meine Aufgabe als Pädagoge ist: die mir anvertrauten Kinder auf dem Weg in ein Leben vorzubereiten, das von Menschlichkeit geprägt ist. Ich will sie zu eigenständigen Menschen erziehen, die zu eigenen Gedanken fähig sind und ihre eigenen sowie die Bedürfnisse anderer achten. Ich werde dafür sorgen, dass ich in rotbackige, lachende und nicht in ängstliche, blasse Kindergesichter sehe. Ich werde meinen Schutzbefohlenen wieder das Gefühl geben, dass sie willkommen, wertvoll und „richtig“ sind.
Dieser Artikel erschien auf Rubikon am 15.02.2021 und ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.