Die Anti-Völkermord-Proteste an US-Universitäten ebben nicht ab. In deutschen Medien werden sie vorwiegend als antijüdisch bezeichnet.
Anti-jüdische oder Anti-Völkermord-Proteste
An mehreren Universitäten der USA protestieren Menschen und fordern eine Beendigung des Krieges in Gaza.
Die Universitätsleitungen gehen teilweise scharf dagegen vor, weil sie die Proteste als antijüdisch bewerten. So berichtete ZEIT.ONLINE am 27. 04. 2024:
„Die Universität in der Stadt Boston an der US-Ostküste teilte im Onlinedienst X mit, die Räumung des Camps sei veranlasst worden, nachdem Demonstrierende in der Nacht mit ‚bösartigen antisemitischen Bemerkungen, darunter ‚Tötet die Juden‘, eine rote Linie überschritten‘ hätten.“
Wohl gestützt auf solche Aussagen und die offizielle Berichterstattung beispielsweise von CNN schrieb Martin Klingst, Autor der ZEIT, am 26. 04. 2024 unter dem Titel „Zweierlei Maß“:
„Viele der protestierenden US-Studenten wollen die Welt nicht mehr nach den alten Kategorien in Gut und Böse aufteilen. Für die USA kann das zum Problem werden.“
Mal abgesehen davon, dass das Wort „kann“ vielleicht schon längst durch „ist“ ersetzt werden müsste, weil die Polarisierung der USA mehr oder weniger Realität ist, wirft der Autor doch einen recht einseitigen Blick auf die Proteste an den Universitäten. Das kommt besonders in folgenden Formulierungen zum Ausdruck:
„Es gibt Trittbrettfahrer, Ideologen, islamistische Fanatiker, politisch Verblendete, die ihn nutzen für ihren blindwütigen Hass auf Israel. Die sich mit der Terrororganisation Hamas und derem mörderischen Anschlag vom 7. Oktober 2023 solidarisieren, die die Juden aus Nahost vertreiben und den Staat Israel lieber heute als morgen vom Erdboden tilgen wollen.
Es gibt zugegebenermaßen oft ungeschickt agierende Universitätspräsidentinnen und -präsidenten, die offenbar Schwierigkeiten haben, legitimen von illegalem Protest zu unterscheiden und denen es schwerfällt, trotz des sehr weitreichenden Rechts auf Meinungsfreiheit einen Aufruf zum Genozid an Juden klar als eine Straftat zu deklarieren.“
Geht es den Protestierenden wirklich um einen „Genozid an Juden“, darum, den Genozid an den Palästinensern mit einem Genozid an Juden zu beantworten?
Anti-Völkermord-Proteste gegen moralischen Bankrott
Wer nicht nur die deutschen „Qualitätsmedien“ konsumiert, gelangt vielleicht zu einem anderen Eindruck:
Erfahrene Journalisten vor Ort sehen in den studentischen Aktionen wohl mehr einen Anti-Völkermord-Protest.
Joe Lauria, Chefredakteur von Consortiunews und ein ehemaliger UN-Korrespondent für The Wall Street Journal, Boston Globe und anderer Zeitungen, berichtete, dass die Campuspolizei der Columbia University in New York; Yale University in New Haven, Connecticut; die University of Texas in Austin; die Emory University in Atlanta und die University of Southern California in Los Angeles seit letzter Woche ähnliche Lager auf ihrem jeweiligen Campus aufgelöst hätten.
Studenten und Lehrkräfte wurden verhaftet, weil sie von ihrem Recht Gebrauch machten, sich gegen den anhaltenden Völkermord in Gaza auszusprechen. Vielen von ihnen wurde die Rückkehr auf den Campus verweigert.
Je härter die Taktik gegen die Proteste ist, desto größer werden die Proteste, was Vergleiche mit den Antikriegsprotesten auf US-Campus während der Zeit des Vietnamkriegs hervorruft.
Über die Proteste an der Princetown University berichtete auch Chris Hedges, ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Journalist, der 15 Jahre lang als Auslandskorrespondent der New York Times tätig war.
„Studentische Demonstranten im ganzen Land zeigen einen moralischen und physischen Mut – vielen drohen Suspendierung und Ausschluss -, der jede größere Institution des Landes beschämt. Sie sind nicht gefährlich, weil sie das Campusleben stören oder jüdische Studenten angreifen – viele der Protestierenden sind Juden -, sondern weil sie das erbärmliche Versagen der herrschenden Eliten und ihrer Institutionen aufdecken, dem Völkermord, dem Verbrechen aller Verbrechen, Einhalt zu gebieten. Diese Studenten sehen, wie die meisten von uns, Israels live übertragenes Abschlachten des palästinensischen Volkes. Aber anders als die meisten von uns handeln sie. Ihre Stimmen und Proteste sind ein starker Kontrapunkt zu dem moralischen Bankrott, der sie umgibt.
Kein einziger Universitätspräsident hat die Zerstörung aller Universitäten in Gaza durch Israel angeprangert. Kein einziger Universitätspräsident hat zu einem sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand aufgerufen. Kein einziger Universitätspräsident hat die Worte ‚Apartheid‘ oder ‚Völkermord‘ benutzt. Kein einziger Universitätspräsident hat zu Sanktionen und zur Desinvestition gegenüber Israel aufgerufen.“
Hedges, der selbst von der Campuspolizei abgeführt wurde kommentierte:
„‚Diese Universitäten haben Angst, nicht vor den Studenten, sondern vor den klaren moralischen Fragen, die diese Studenten aufwerfen und die den moralischen Bankrott und die Mitschuld aller unserer führenden Institutionen am Massenmord aufdecken. Was diese Institutionen und diejenigen, die sie leiten, nicht erkannt haben, ist, dass es nichts gibt, was sie jetzt tun können. Sie wurden als das entlarvt, was und wer sie sind.'“
Netanjahus Vergleich mit antijüdischen Protesten im Deutschland der Dreißiger Jahre
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verglich die Proteste mit den antijüdischen Protesten auf deutschen Universitätsgeländen in den 1930er Jahren.
Ein Teilnehmer der Proteste an der Georg Washington University kommentierte Netanjahus Aussage mit den Worten:
„‚Netanjahu hatte die Dreistigkeit, diesen Studentenaufstand als ‚schrecklich‘ zu bezeichnen‘, sagte ein Student der GWU. ‚Schrecklich ist das entdeckte Massengrab mit über 342 Leichen, die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren. Das ist schrecklich. Kinder wurden [im al-Shifa-Krankenhaus] mit den Händen auf dem Rücken begraben. Das ist schrecklich. Patienten mit Kathetern, die sich noch im Körper befinden. Das ist schrecklich.'“
Darüber berichtete Jo Lauria und bittet die Leser seines Artikels, sich den 57-Minuten-Film (und sein Ende) über GWU-Studenten anzusehen, die friedlich gegen den Völkermord in Gaza protestieren, einschließlich eines Interviews mit Medea Benjamin, Mitbegründerin von Code Pink, um sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Polizei stoppt Räumung des GWU-Campus
Den ausgebliebenen Polizeieinsatz, mit dem der Präsident der Georg Washington University das Lager der Protestierenden räumen lassen wollte, kommentierte Joe Lauria:
„Dies ist ein kritischer Moment im Umgang des US-amerikanischen und europäischen Establishments mit dem explodierenden Widerstand gegen ihre skrupellose Unterstützung des Völkermords.
Entweder sehen sie sich mit der harten Realität konfrontiert, dass ihre Aktionen erbitterten Widerstand hervorrufen, der ihr politisches Überleben bedroht, und hören daher auf, Israel zu bewaffnen und zu finanzieren, oder sie verstärken die Repression gegen die Opposition, angefangen bei den studentischen Demonstranten. Diese Entscheidungen werden in diesen Tagen getroffen und werden enorme Auswirkungen haben.
Dass der Bürgermeister und die Polizeichefs von Washington den Mut zeigten, die Studenten in Ruhe zu lassen, zeigt, dass sich ernsthafte Zweifel in die offizielle Denkweise einschleichen. Sogar Beamte sehen, was Israel tut.“
Wie sehen Sie die Studentenproteste?
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