Sozial ist, was Punkte bringt
Ein Sozialpunktesystem auf Basis Künstlicher Intelligenz könnte die Demokratie schon in naher Zukunft nicht nur bereichern, sondern ersetzen.
von René Röderstein
In den nächsten Jahren wird sich die Welt grundlegend verändern. Sind die westlichen Gesellschaften flexibel und schnell genug, um darauf zu reagieren? Es scheint ausgemachte Sache, dass Technologien, ihre Hersteller und Programmierer, die Weltgeschichte fortan vorantreiben werden. Als störend könnte sich dabei nur der gewöhnliche Mensch in seiner unausrottbaren geistigen Trägheit erweisen. Wie aber kriegt man den Menschen so weit, dass er zu den technischen Innovationen passt? Westliche Eliten liebäugeln in diesem Zusammenhang mit dem chinesischen Sozialpunktesystem. Und auch die Bundesregierung prüft, ob Big Data und künstliche Intelligenz die Demokratie ersetzen könnten. Denn was im Weg steht, muss beiseite geschafft werden. Es wurde viel über die negativen Begleiterscheinungen der Coronakrise geschrieben. Selten aber wird diese als der ideale Einstieg in die Verhaltenssteuerung mittels Vergabe und Verweigerung von Privilegien interpretiert. Heute regelt der Impfstatus den Zugang eines Menschen zum Restaurant. Schon morgen könnte ein durchorganisierter technokratischer Apparat noch viele weitreichendere Bedingungen für die „Gewährung“ von Grundrechten stellen.
Im August 2020 wurde, im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und im Rahmen des sogenannten Vorausschau-Prozesses, die Studie „Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land“ herausgegeben (1). Die Studie stellt fünf Szenarien dazu vor, wie die Gesellschaft und die Wertelandschaft in Deutschland morgen aussehen könnten. Insbesondere über das Szenario „Das Bonus-System“, das die Einführung eines Digitalpunktesystems nach chinesischem Vorbild in den 2030er-Jahren in Deutschland beschreibt, wurde in den sozialen Medien intensiv diskutiert.
Warum taucht ein solches Szenario in einer Studie des BMBF auf? Soll hier ein System, das bisher eher als Orwell’sche Dystopie diskutiert wurde (2), gesellschaftsfähig gemacht werden? Wer könnte ein Interesse daran haben, ein solches System als Option in die Diskussion einzuführen?
Werfen wir eine Blick auf die beteiligten Personen. Die Studie wurde von Cordula Klaus und Michael Astor von der Prognos AG sowie Dr. Christian Grünwald von der Z_punkt GmbH geleitet. In den Vorausschau-Prozess des BMBF ist auch eine Gruppe von Beratern, genannt „Zukunftskreis“, eingebunden. Die Vorsitzende des Zukunftskreises ist Cornelia Daheim. Frau Daheim bezeichnet sich als Foresight-Beraterin und berät in Sachen „strategischer Vorausschau“. Sie ist Gründerin und Inhaberin von Future Impact Consulting und ehemalige geschäftsführende Gesellschafterin der Z_punkt GmbH. Daheim leitet zudem den „German Node“ des Millenium Project und ist ehemalige Präsidentin und Vize-Präsidentin des Foresight Europe Network (3).
Das Millenium Project wird, neben vielen anderen, auch von der NATO, der Rockefeller Foundation und dem US-Verteidigungsministerium gesponsert (4). Dem deutschen Knoten gehören unter anderem die Bertelsmann Stiftung, vertreten von Dr. Ole Wintermann, Future Impact Consulting, das Unternehmen von Cornelia Daheim, und die Z_punkt GmbH, vertreten von Dr. Christian Grünwald an (5).
Sowohl der Vorausschau-Prozess als auch die besprochene Studie werden offenbar wesentlich vom deutschen Knoten des Millenium Project beeinflusst, in dem wiederum die Bertelsmann Stiftung eine wichtige Rolle spielt. Die zentrale Person ist Cornelia Daheim, die sowohl das Expertengremium des Vorausschau-Prozesses als auch den deutschen „Millenium Project“-Knoten gegründet hat und leitet.
In Kooperation zwischen der Bertelsmann Stiftung und dem Millenium Project erschien 2016 die Delphi-Studie „2050: Zukunft der Arbeit“. Herausgeber der Studie waren Cornelia Daheim und Dr. Ole Wintermann (6).
Die in der Studie befragten Experten gehen im Schnitt von einer Arbeitslosigkeit von 24 Prozent bis zum Jahr 2050 aus, bedingt durch die zunehmende Automatisierung und den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Einzelne Experten rechnen mit 50 Prozent oder sogar 100 Prozent Arbeitslosigkeit. Daraus werden verschiedene Problemfelder abgeleitet: Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, der Zusammenbruch der Sozialsysteme bis hin zu sozialen Unruhen und Bürgerkriegen in den heutigen Industrieländern (7). Die Analyse ist nicht neu und ähnelt im Kern dem von Wassily Leontief bereits 1982 beschriebenen Paradies-Paradoxon (8).
Die Mehrheit der für die Studie Befragten traut den politischen Institutionen die Lösung der skizzierten Probleme nicht zu. Mögliche Lösungen werden nicht weiter genannt und diskutiert. In der Studie wird lediglich von einer Transformationsphase und einem gänzlich neuen System gesprochen. Als einziger konkreter Ansatz taucht die Entkopplung von Arbeit und Einkommen in Form eines Grundeinkommens auf (9).
Legt man die dramatische Problemanalyse und die Einschätzung, die Politik könne die anstehenden Probleme nicht lösen, zugrunde, dann überrascht es nicht, dass sich ein Thinktank wie die Bertelsmann Stiftung mit Problemlösungen befasst und versucht, die eigenen Ansätze in den politischen Diskurs einzufüttern.
In der Erwartung tiefgreifender Umbrüche, sozialer Unruhen und von Bürgerkriegen scheint der Wunsch, diesen disruptiven Prozess möglichst gut zu managen und zu kontrollieren, zunächst nachvollziehbar.
Die Kontrolle des Transformationsprozesses erfordert dann auch die Kontrolle der Bevölkerung, entweder durch Polizei und Militär oder durch das Mikromanagement und die intrinsische Steuerung der Menschen in Form einer direkten Belohnung oder Bestrafung jeder einzelnen Handlung — durch ein Sozialpunktesystem.
Die Bertelsmann Stiftung hat sich schon 2018 im stiftungseigenen Magazin Change mit den Vor- und Nachteilen des chinesischen Sozialpunktesystems beschäftigt (10) und widmet der Entwicklung in Asien ein eigenes Projekt (11). Aber natürlich ist das Thema des Social Engineering viel älter. Bereits 2015 berichtete Die Welt, dass Kanzlerin Merkel die Deutschen durch „Nudging“ erziehen will, eine Methode, die in Großbritannien und den USA damals schon angewendet wurde (12).
„Nudging“ bedeutet, kleine Stupser beziehungsweise gesetzliche Anreize zu geben, um das Verhalten der Bürger in eine gewünschte Richtung zu lenken. Und was sonst ist ein Sozialpunktesystem als eine auf die Gesamtbevölkerung angewendete und digitale Form des Nudgings?
Auch Shoshana Zuboff beschreibt in ihrem Buch „The Age of Surveillance Capitalism“, dass die großen Silicon-Valley-Unternehmen inzwischen über genügend Daten verfügen, um das Verhalten einzelner Personen, Gruppen und Gesellschaften nicht nur zu prognostizieren, sondern zu steuern — die Gesellschaft als kybernetisches, steuer- und optimierbares System (13).
Diese Ideen haben auch schon Einzug in ein anderes, bekanntes Papier der Bundesregierung gehalten, in die „Smart City Charta“ von 2017, und dort heißt es:
„Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstimmungen. Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem ersetzen“ (14).
Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Scoring- beziehungsweise Bewertungssysteme sind längst Teil unserer Realität. Die Schufa ermittelt unsere Bonität, Silicon Valley bewertet unser Verwertungspotenzial als Konsument, Patient oder Wähler und Pre-Crime-Spezialist Palantir analysiert unsere Neigung zu kriminellem Verhalten, zum Beispiel im Auftrag der hessischen Landesregierung (15).
In einem echten Sozialpunktesystem, mit dem Ziel der Verhaltenssteuerung, muss die Bewertung aber auch eine direkte, spürbare Konsequenz haben, beispielsweise ein Arbeitsverbot bei Fehlen des richtigen Immunstatus. Oder ein Zutrittsverbot zu Geschäften und Restaurants, falls kein Konsumentenstatus A+ vorliegt. Oder ein Reiseverbot bei einer Pre-Crime-Bewertung B-. Alles jeweils im QR codiert.
Die Technik dazu ist da, es fehlt nur die Infrastruktur. Aber die wird gerade im Zuge des digitalen Impfpasses aufgebaut …
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vergleiche https://www.vorausschau.de/SharedDocs/Downloads/vorausschau/de/BMBF_Foresight_Wertestudie_Langfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=1
(2) Vergleiche https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/sozialkreditsystem-china-auf-dem-weg-in-die-ueberwachung/23858806.html
(3) Vergleiche https://future-impacts.de/team?lang=de
(4) Vergleiche https://www.millennium-project.org/sponsors/
(5) Vergleiche https://future-impacts.de/millennium-projekt?lang=de
(6) Vergleiche https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/2050-die-zukunft-der-arbeit
(7) Vergleiche ebenda, Seite 25
(8) Vergleiche https://de.wikipedia.org/wiki/Paradies-Paradoxon
(9) Vergleiche ebenda, Seite 29
(10) Vergleiche https://www.change-magazin.de/de/china-social-credit-system-was-steckt-wirklich-dahinter
(11) Vergleiche https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/deutschland-und-asien
(12) Vergleiche https://www.welt.de/wirtschaft/article138326984/Merkel-will-die-Deutschen-durch-Nudging-erziehen.html
(13) Vergleiche https://shoshanazuboff.com/book/about/
(14) Vergleiche http://web.archive.org/web/20210502152424/https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/bauen/wohnen/smart-city-charta-langfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=7, Seite 43
(15) Vergleiche https://netzpolitik.org/2019/big-data-bei-der-polizei-hessen-sucht-mit-palantir-software-nach-gefaehrdern/
Dieser Artikel erschien auf Rubikon am 18.01.2021 und ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.