Welche Funktion haben Gewerkschaften. Eine Forderung der GEW-Vorsitzenden Maike Finnern wirft Fragen zum demokratischen System auf.
Gewerkschaften für mehr Kontrolle der Beschäftigten
Wenn Maike Finnern, Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, in der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) fordert, dass es an Schulen „systematische Beschwerde- und Meldeverfahren“, „klare Handlungsketten“ und „stärkeren Diskriminierungsschutz“ geben müsse, klingt das auf den ersten Blick sinnvoll, oder? Schließlich geht’s um Schutz – für Lehrkräfte und Schüler. Mehr Klarheit, mehr Handlungssicherheit, weniger Diskriminierung. Alles Punkte, bei denen man sofort nicken möchte.
Aber schauen wir einmal etwas genauer hin und fragen uns: Was passiert hier eigentlich gesellschaftlich, machtpolitisch – und wessen Interessen stehen im Vordergrund?
Der Anteil der verbeamteten Lehrkräfte an den Lehrkräften in Deutschland liegt bei gut zwei Dritteln, während knapp ein Drittel als Angestellte tätig sind.
Gemäß § 3 des Beamtenstatusgesetzes gilt:
„Beamtinnen und Beamte stehen zu ihrem Dienstherrn in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis (Beamtenverhältnis).“
Sie gehören demzufolge nicht zu den „Arbeitnehmern“ im öffentlichen Dienst (Tarifbeschäftigte). Für Beschäftigungsverhältnisse von „Arbeitnehmern“ gelten das Arbeitsrecht und Tarifverträge. Während Arbeitsverträge individualrechtliche Verhältnisse sind, beruhen Tarifverträge auf der Koalitionsfreiheit gemäß Art 9 des Grundgesetzes.
Gewerkschaften zwischen Schutz und Kontrolle – Was steckt hinter den Forderungen der GEW-Vorsitzenden Maike Finnern?
Gewerkschaften sind Interessenvertretungen der „Arbeitnehmer“. Ihre ursprüngliche Aufgabe war es – und sollte es auch heute noch sein –, kollektiven Schutz gegenüber wirtschaftlicher und staatlicher Macht zu organisieren. Im Klartext: Sie sind nicht dazu da, nett mit dem Chef oder dem Ministerium zu plaudern, sondern dafür, dass Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, nicht unter die Räder kommen.
Gerade im Bildungsbereich ist das eine besondere Herausforderung: Lehrkräfte sind einerseits abhängig Beschäftigte mit allen Problemen wie Arbeitsdruck, Zeitnot, Überstunden – andererseits aber auch Teil des Staates, also mitverantwortlich für die „Funktionsfähigkeit“ des Bildungssystems.
Was fordert Finnern – und warum ist das problematisch?
Finnern fordert, insbesondere im Hinblick auf „Lehrer mit AfD-Parteibuch“:
- Beschwerde- und Meldeverfahren
- Präventions- und Interventionskonzepte mit klaren Abläufen
- Unabhängige Beratungs- und Beschwerdestellen
- Mehr Diskriminierungsschutz
- Strukturen, die Lehrkräften sagen, „wo rote Linien sind“
Klingt doch erstmal gut, oder? Aber die entscheidende Frage lautet: Was bewirkt das politisch-strukturell – und wem nützt es am Ende?
Die kritische Sicht:
- Es geht hier nicht um mehr Mitbestimmung, sondern um mehr Kontrolle – durch Verfahren, Abläufe, Meldestrukturen.
- Es geht nicht um Stärkung solidarischer Strukturen unter Kollegen, sondern um Formalismus und Regelwerke, die potenziell auch gegen Beschäftigte selbst verwendet werden können.
- Lehrkräfte sollen nicht ermächtigt werden, gemeinsam etwas zu verändern, sondern diszipliniert, „professionell“ und „richtlinienkonform“ handeln.
Kurz: Die Idee klingt schützend – funktioniert in der Praxis aber oft als ein weiteres Mittel zur Bürokratisierung und Steuerung von oben nach unten.
Die politische Ebene: Wer kontrolliert hier eigentlich wen?
Wenn wir es nüchtern betrachten: Das Bildungssystem ist Teil des Staatsapparats – und der Staat wiederum handelt im Interesse der gesellschaftlich dominanten Klasse. Also: Er sichert nicht in erster Linie Gerechtigkeit, sondern die Funktionsfähigkeit des Ganzen.
Deshalb ist jede neue Struktur – und sei sie noch so gut gemeint – auch ein Instrument zur Kontrolle, zur Disziplinierung und zur Absicherung der „Ordnung“. Und genau das spiegelt sich in solchen Forderungen wider.
Statt echter kollektiver Handlungsfähigkeit kommt also:
„Du darfst dies, du darfst das nicht – bitte den Meldebogen ausfüllen.“
Was wäre die Alternative?
Ein echter, solidarischer und progressiver Ansatz müsste lauten:
- Diskriminierungsschutz? Ja – aber auf Augenhöhe, mit starken gewerkschaftlichen Vertrauensleuten, die sich für den Schutz der lohnabhängig Beschäftigten einsetzen, nicht mit anonymer Bürokratie.
- Klare Regeln? Ja – aber gemeinsam entwickelt und demokratisch verankert, nicht von oben verordnet.
- Professionelles Handeln? Klar – aber mit Raum für politisches Bewusstsein, Konfliktfähigkeit und kollektive Strategien.
Denn wer Lehrkräfte wirklich stärken will, muss sie nicht in Meldeketten einbinden, sondern ihnen Rückhalt geben, sich im Zweifel auch mal gegen unsinnige oder übergriffige Anweisungen zu stellen.
Fazit: Gewerkschaften zwischen Anspruch und Realität
Gewerkschaften stehen – gerade im öffentlichen Dienst – in einem echten Dilemma. Sie wollen schützen, laufen aber Gefahr, Teil eines Systems zu werden, das verwalten, steuern und disziplinieren will.
Die spannende Frage ist:
Wollen wir eine Gewerkschaft, die „mitarbeitet“ an solchen Strukturen – oder eine, die sich mutig für echte Mitbestimmung, bessere Arbeitsbedingungen und politische Klarheit einsetzt?
Maike Finnerns Vorschläge zeigen deutlich, dass wir uns hier an einem Scheideweg befinden. Und wie so oft im Leben gilt: Nur wer den Widerspruch erkennt, kann ihn auch produktiv nutzen.
Wie sehen Sie das? Wollen Sie zu den Menschen gehören, die nicht einfach nur Regeln befolgen, sondern wissen wollen, woher sie kommen und wem sie nützen? Dann lohnt es sich, Gewerkschaften kritisch, aber solidarisch zu hinterfragen – und sie dabei aktiv mitzugestalten, statt sie nur als Serviceeinrichtung zu sehen.
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Wolfgang Abendroth: Aber man solle niemanden allein aufgrund seiner Parteimitgliedschaft verketzern.
Indirektes Zitat und Titelbild: Wolfgang Abendroth – Ein Projekt in Kooperation von Rosa-Luxemburg-Stiftung, Offizin Verlag und Distel Verlag