Der 9. November in der deutschen Geschichte: Revolution 1918, Pogromnacht 1938 und Mauerfall 1989 – Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche.
Der 9. November: Dialektik der deutschen Geschichte
Der ambivalente Schicksalstag
Der 9. November steht als Kalenderdatum wie kein anderes für die Widersprüche in der deutschen Geschichte. An diesem Tag prallten gegenläufige Tendenzen von Revolution und Konterrevolution, Fortschritt und Rückschritt, Befreiung und Vernichtung aufeinander. Was für die einen eine scheinbar zufällige Folge geschichtlicher Ereignisse ist, sehen andere nicht als Produkt des Zufalls, sondern als Ausdruck der zugrundeliegenden ökonomischen und sozialen Widersprüche.
9. November 1918: Die Novemberrevolution
Die Ausrufung der Republik einerseits durch Philipp Scheidemann und andererseits durch Karl Liebknecht am 9. November 1918 markiert den Höhepunkt der revolutionären Ereignisse infolge des I. Weltkriegs, der nach verschiedenen Schätzungen bis zu 17 Millionen Menschenleben kostete. In dieser Revolution überlagerten sich mehrere Widersprüche:
- Der Widerspruch zwischen imperialistischen Produktionsverhältnissen und menschlichen Bedürfnissen: Der verlorene Weltkrieg offenbarte die Irrationalität des imperialistischen Systems.
- Die Verschärfung des Widerspruchs zwischen den Klassen, die die Hauptlast des Krieges trugen und den profitierten Kriegsgewinnern der Rüstungsindustrie.
- Das Auseinanderklaffen von politischer Überbau und ökonomischer Basis: Die feudal-bürokratischen Strukturen des Kaiserreichs waren den entwickelten kapitalistischen Produktivkräften nicht mehr angemessen.
Die doppelte Ausrufung der Republik – der bürgerlichen durch Scheidemann und der sozialistischen durch Liebknecht – verkörperte bereits den antagonistischen Widerspruch, der die Weimarer Republik und das nachfolgende nationalsozialistische sogenannte „Dritte Reich“ prägen sollte.
Ausrufung der Republik.
Von der Terrasse des Reichstages hielt der Abgeordnete Scheidemann kurz nach 2 Uhr eine Ansprache an die dort versammelte Menge. Scheidemann erklärte:
„Wir haben auf der ganzen Linie gesiegt, das Alte ist nicht mehr. Ebert ist zum Reichskanzler ernannt, dem Kriegsminister ist der Abgeordnete Leutnant Göhre beigeordnet. Es gilt nunmehr, den errungenen Sieg zu festigen, daran kann uns nichts mehr hindern.
Die Hohenzollern haben abgedankt. Sorgt dafür, daß dieser stolze Tag durch nichts beschmutzt werde. Es sei ein Ehrentag für immer in der Geschichte Deutschlands. Es lebe die deutsche Republik.
Vossische Zeitung, 9. November 1918 (letzter Zugriff: 09.11.2025, 12:41 Uhr)
Liebknecht an das Volk
Gegen vier Uhr entwickelte sich um das Schloß ein lebhaftes Gedränge. Die Auffahrten und der Platz vor dem Balkon waren dicht besetzt. Eine Anzahl von Automobilen mit roter Flagge hielt unter der Menge. Unter lebhaftem Jubel schob sich ein kleiner Kraftwagen, auf dessen Oberdeck Karl Liebknecht unter einer großen roten Fahne stand, durch die Masse und hielt gegenüber dem Hauptportal des Schlosses. Liebknecht verkündete in einer kurzen Ansprache, dass der Arbeiter- und Soldatenrat von Berlin das Schloß in seinen Schutz genommen habe. Es sei kein beliebiges Privateigentum mehr, sondern Volkseigentum. Die Wache würde durch das Telegraphenbataillon ausgeübt, sie habe striktesten Befehl, jegliche Versuche, einen Angriff auf das Gebäude zu unternehmen, mit Waffengewalt zu vereiteln. Darauf sprach ein Unteroffizier des Telegraphenbatallions und ermahnte ebenfalls zur Ruhe. Man solle nicht das, was man bis jetzt errungen habe, durch Unbesonnenheit zu verscherzen; die Wache würde der ihr vom Rat auferlegten Pflicht bis zum äußersten nachkommen. Sodann wandte sich Liebknecht wieder an die Menge und sagte:
„Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Der Friede i st in diesem Augenblick geschlossen. Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft der Hohenzollern, die in diesem Schloß jahrhundertelang gewohnt haben, ist vorüber. I n d i e s e r S t u n d e p r o k l a m i e r e n w i r d i e f r e i e s o z i a l i s t i s c h e R e p u b l i k D e u t s c h l a n d. Wir grüßen unsere russischen Brüder, die vor vier Tagen schmählich davongejagt worden sind.“ Liebknecht wies dann auf das Hauptportal des Schlosses und rief mit erhobener Stimme: „Durch dieses Tor wird die neue sozialistische Freiheit der Arbeiter und Soldaten einziehen. Wir wollen an der Stelle, wo die Kaiserstandarte wehte, die rote Fahne der freien Republik Deutschland hissen!“
Die Soldaten der Schloßwache, die auf dem Dache sichtbar waren, schwenkten die Helme und grüßten zur Menge herab, die auf das Tor zudrängte. Es wurde langsam geöffnet, um dem Automobil L i e b k n e c h t s Einlaß zu gewähren. Die Menge wurde davon zurückgehalten, zu folgen. Nach einigen Minuten erschienen, von der Menge stürmisch begrüßt, die Soldaten der Schloßwache ohne Waffen und Gepräck. Kurze Zeit darauf zeigte sich Liebknecht mit Gefolgschaft auf dem Balkon, von dessen Grau sich eine breite rote Decke abhob.
„Parteigenossen,“ begann Liebknecht, „der Tag der Freiheit ist angebrochen. Nie wieder wird ein Hohenzoller diesen Platz betreten. Vor 70 Jahren stand hier am selben Ort Friedrich Wilhelm IV. und mußte vor dem Zug der auf den Barrikaden Berlins für die Sache der Freiheit Gefallenen, vor den 50 blutüberstömten Leichnamen seine Mütze abnehmen. Ein anderer Zug bewegt sich heute hier vorüber. Es sind die Geister der Millionen, die für die heilige Sache des Proletariats ihr Leben gelassen haben. Mit zerspaltenem Schädel, in Blut gebadet, wanken diese Opfer der Gewaltherrschaft vorüber, und ihnen folgen die Geister von Millionen Frauen und Kindern, die für die Sache des Proletariats in Kummer und Elend verkommen sind. Und Abermillionen von Blutopfern dieses Weltkrieges ziehen ihnen nach. Heute steht eine unübersehbare Menge begeisterter Proletarier an demselben Ort, um der neuen Freiheit zu huldigen. Parteigenossen, i ch p r o k l a m i e r e d i e freie sozialistische Republik D e u t s c h l a n d, die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird. Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen. Wir rufen unsere russischen Brüder zurück. Sie haben bei ihrem Abschied zu uns gesagt: „Habt Ihr ein einem Monat nicht das erreicht, was wir erreicht haben, so wenden wir uns von Euch ab.“ Und nun hat es kaum vier Tage gedauert.“
„Wenn auch das Alte niedergerissen ist“, fuhr Liebknecht fort, „dürfen wir doch nicht glauben, dass unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Bauern aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen zur Vollendung der Weltrevolution auf.
Wer von Euch die freie sozialistische Republik Deutschland und die Weltrevolution erfüllt sehen will, erhebe seine Hand zum Schwur (alle Hände erheben sich und Rufe ertönen: Hoch die Republik!) Nachdem der Beifall verrauscht war, ruft ein neben Liebknecht stehender Soldat und schwenkt die rote Fahne, die er in den Händen trägt: „Hoch lebe ihr erster Präsident Liebknecht!“
Liebknecht schloß: Soweit sind wir noch nicht. Ob Präsident oder nicht, wir müssen alle zusammenstehen, um das Ideal der Republik zu verwirklichen. Hoch die Freiheit und das Glück und der Frieden!“
Bald darauf wurde an dem Mast der Kaiserstandarte die rote Fahne gehißt.
Vossische Zeitung, 10. November 1918 (letzter Zugriff: 09.11.2025, 12:50 Uhr)
Von 1923 zu 1938 – der 9. November und die Reichspogromnacht
Genau zwanzig Jahre später zeigte sich die Zerstörung der revolutionären Potenziale der Weimarer Republik in ihrer barbarischsten Form.
Am 9. November 1023 scheiterte der „Hitlerputsch“, der erste Versuch der Nazis unter Führung von Adolf Hitler, die politische Macht zu übernehmen.
Zehn Jahre später, im Februar 1933, setzte Reichspräsident Paul von Hindenburg mit der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ (Reichstagsbrandverordnung) den Artikel 114 der Weimarer Verfassung (Schutz der persönlichen Freiheit) außer Kraft.“ (wikipedia.de, letzter Zugriff: 09.11.2025, 14:50 Uhr)
Auf dieser juristischen Grundlage und nachfolgenden Gesetzen Tausende Bürger ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage und bürgerlicher Freiheiten beraubt.
Die Novemberpogrome der „Reichskristallnacht“ waren ein Kulminationspunkt und forderten Schätzungen zufolge bis zu 2 000 Todesopfer:
- Fortsetzung der Verfolgung kapitalismuskritischer Kräfte nicht nur der Kommunisten und Sozialdemokraten ab 1932 durch systematische Zerstörung jüdischen Eigentums bei gleichzeitiger Arisierung ihrer Unternehmen.
- Die faschistische Lösung der kapitalistischen Krise auf dem Rücken einer Minderheit bei gleichzeitiger Disziplinierung des gesamten Volkes, nicht nur der Arbeiterklasse.
- Die Umleitung sozialer Protestpotenziale in rassistische Bahnen und Kriegsvorbereitung.
Der Völkische Beobachter berichtete über das Novemberpogrom:
„Reichsminister Dr. Goebbels gibt bekannt: Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den feigen jüdischen Meuchelmord an einem deutschen Diplomaten in Paris hat sich in der vergangenen Nacht in umfangreichem Maße Luft verschafft. In zahlreichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsaktionen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen. Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerung die strenge Aufforderung, von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen. Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat in Paris wird auf dem Wege der Gesetzgebung, beziehungsweise der Verordnung dem Judentum erteilt werden.
Die feige Mordtat des Juden Grünspan hat im gesamten deutschen Volk eine nur allzu verständliche Empörung hervorgerufen, die sich denn auch angesichts der unvergleichlichen Gemeinheit dieser Tat und der unverfrorenen Frechheit, mit der sie ausgeführt wurde, in judenfeindlichen Kundgebungen äußerte. Wenn dabei, trotz der so berechtigten Wut aller Deutschen, keinem Juden ein Haar gekrümmt wurde, so mag man das in der Welt der Diszipliniertheit des deutschen Volkes zugutehalten. Auf jeden Fall soll nicht versäumt werden, nachdrücklichst darauf hinzuweisen, daß bei einer neuen Herausforderung durch das Weltjudentum das deutsche Volk kaum wieder so glimpflich mit den Verbrechern abrechnen wird.“ (Völkischer Beobachter – Wiener Ausgabe-, 11. November 1938, letzter Zugriff: 09.11.2025, 14:50 Uhr)
Nach der 1933 vom deutschen Großkapital unter Führung von Alfred Hugenberg errichteten Herrschaft der Nazis, wurden zunächst vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten verfolgt und in Konzentrationslager gebracht. Juden wurden vorwiegend aus öffentlichen Institutionen verdrängt (siehe auch Berufsbeamtengesetz, Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft). Ab 1935/1936 verschärften die Nazis die zielgerichtete Verfolgung und Vernichtung der Juden in Konzentrationslagern.
„Ende 1938 wurden fast 60.000 Menschen in Konzentrationslagern festgehalten.“ (Ulrich Herbert u. a.: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 1, S. 29; zitiert in wikipedia.de, letzter Zugriff: 09.11.2025, 12:50 Uhr)
Der 9. November 1938 bleibt in der deutschen Geschichte ein entscheidender Höhepunkt auf dem Weg, das gesamte Volk reif für den II. Weltkrieg zu machen. Vier Jahre später notierte Joseph Goebbels in seinen Tagebüchern:
„Man soll im Kriege nicht vom Frieden reden, (…) es liegt im Interesse unserer Gefangenen, dass wir den Krieg gewinnen und dafür tüchtig und innerlich abwehrbereit bleiben und nicht durch vorzeitige Sentiments die Kriegstüchtigkeit des deutschen Volkes vermindern.“
9. November 1989: Der „Mauerfall“
Der „Fall der Berliner Mauer 1989“ steht für ein weiteres bedeutsames Datum in der deutschen Geschichte:
„Der 9. November 1989 und die folgende Nacht bedeuteten das Ende der Mauer,die 28 Jahre lang Ost- und Westberlin geteilt hatte. Tausende Berlinerinnen und Berliner strömten an diesem Abend zu den Grenzübergängen, nachdem die DDR-Regierung vorzeitig eine neue Reiseregelung verkündet hatte. Die Grenzpolizisten konnten dem Andrang der Menschen nicht mehr standhalten – kurz nach Mitternacht waren alle Grenzübergänge der Stadt geöffnet.“ (bpb.de, letzter Zugriff: 09.11.2025, 16:25 Uhr)
Wie bei den zuvor genannten Ereignissen des 9. November trennen sich auch bei diesem die unterschiedlichen Interessen nicht nur der Deutschen. Was für die einen ein Freudenfest und ein Zugang zu „Freiheit und Wohlstand“ darstellt(e), bedeutete für andere eine schwere Niederlage nach Jahrzehnten des Kampfes gegen die kapitalisitsche Ordnung und Kriegsgefahr.
- Die DDR, die von der SED als ein folgerichtiges historisches Produkt der Novemberrevolution verstanden und dargestellt wurde, markierte das (vorläufige) Ende eines bestimmten sozialistischen Experiments in Deutschland.
- Das realsozialistische System scheiterte an seiner eigenen Unfähigkeit, die von ihm geschaffene Wirtschaft hinreichend weiterzuentwickeln und das politische System zu festigen.
- Die euphorisch empfundene Freiheit war untrennbar verbunden mit dem Triumph des westlichen Kapitalismus.
Fazit: Die unvollendete Revolution
Der Revolution, die am 9. November 1918 einen Weg zu einer deutschen Republik eröffnete, bleibt ein unvollendeter Prozess. Weder die sozialen Forderungen von 1918 noch die Aufarbeitung der Verbrechen von 1938 oder die demokratischen Versprechen von 1989 sind abgeschlossen. Die Widersprüche des ökonomischen und politischen Systems setzen sich in neuer Form fort. Das Vermächtnis dieses Tages ist die Erkenntnis, dass Geschichte kein Schicksal, sondern das Produkt menschlichen Handelns unter bestimmten materiellen Bedingungen ist.



