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März 2, 2022

Ein Blick aufs Völkerrecht vs. Schwarz-Weiß-Malerei

Bei genauerem Hinsehen

Aus Russlands Perspektive ist der Einmarsch in die Ukraine kein Bruch des Völkerrechts. von Felix Feistel Nun ist es also passiert: Russland hat Soldaten in die Ukraine entsandt und zerstört deren Militäreinrichtungen. Die Reflexe des Westens sind ebenso vorhersehbar wie undifferenziert. Mit vereinten Kräften macht der Westen Stimmung gegen Russland, stellt Wladimir Putin als alleinigen Aggressor dar, der gegen das Völkerrecht verstößt. Schaut man genauer hin, dann ist die Frage nach Recht und Unrecht nicht ganz so einfach zu beantworten, wie uns suggeriert wird. Als Russland am Morgen des 24. Februar 2022 eine Militäroperation auf ukrainischem Territorium begann, fielen die Reaktionen erwartungsgemäß aus. Wladimir Putin führe einen Angriffskrieg durch und habe damit das Völkerrecht gebrochen, tönten verschiedene Politiker und erklärten damit die Angelegenheit zum Privatvergnügen des diabolischen Putins. Mal ganz davon abgesehen, dass ein solches Aufheulen amerikanischer und deutscher Politiker und Medien mehr als heuchlerisch ist, stellt sich die Situation, wie immer, in Wirklichkeit komplexer dar, als es die Tagesschau und deren getreue Zuschauer verkraften können. Wovon ist die Rede, wenn hier vom Völkerrecht gesprochen wird? Das Völkerrecht besteht mittlerweile aus einer Vielzahl internationaler und bilateraler Verträge. Zentral ist aber die Charta der Vereinten Nationen, der sich fast alle Staaten der Erde verpflichtet haben. Dort heißt es in Artikel 2, Absatz 4:
„Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
Das ist an sich eine sehr klare Regelung. Kein Land darf ein anderes angreifen. Also ist ein Militäreinsatz auf dem Gebiet eines anderen Landes ein Verstoß gegen die Charta der UN. Diese Vereinbarung ist jedoch nur so simpel, wenn die tatsächliche Situation so eindeutig ist. Würde beispielsweise Frankreich eines Tages plötzlich in Deutschland einmarschieren und Waffengewalt gegen die deutsche Bevölkerung oder militärische Einrichtungen anwenden, wäre die Situation ganz klar. In der Ukraine stellte sich die Lage aber etwas anders dar.

Eine Frage der Perspektive

Nach westlicher Lesart ist auch in der Ukraine die Situation eindeutig: Die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sind Teile der Ukraine. Der Streit zwischen der Westukraine und diesen beiden ist daher eine innerukrainische Angelegenheit, in die sich kein Land einzumischen hat. Demnach war schon die Verlegung russischer Soldaten in diese Landesteile ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Der Angriff auf militärische Einrichtungen der Ukraine ist ein fortgesetzter, gewaltsamerer Verstoß.
Aus russischer Sicht ist die Lage auch eindeutig, jedoch auf eine andere Art. Noch kurz vor dem Angriff hat Russland Donezk und Lugansk als unabhängige Volksrepubliken anerkannt. Somit sind die beiden Republiken keine Teile der Ukraine mehr, sondern unabhängige Staaten.
Diese wurden aus der Ukraine immer wieder beschossen, wobei Zivilisten getötet wurden. Alle Staaten haben aber nach Artikel 51 der Charta der UN das Recht auf Selbstverteidigung. In diesem Kontext kann jeder Staat jeden anderen um Unterstützung bitten. Genau das ist auch in diesem Konflikt geschehen. Die beiden Volksrepubliken haben Russland um Unterstützung bei ihrer Selbstverteidigung gebeten, weshalb Russland zunächst Soldaten dorthin verlegt hat. Dies ist aus russischer Perspektive also vollkommen legitim. Nun könnte man einwenden, es sei schon ein Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 der UN Charta, dass Russland Teile der Ukraine einfach zu unabhängigen Staaten erklärt hat. Damit mache Putin sich die Welt, wie sie ihm gefalle, und führe die Situation der Selbstverteidigung selbst herbei. Auch hier ist die Lage nicht ganz so einfach. Denn nicht Putin hat die beiden Regionen zu selbstständigen Staaten erklärt, sondern das haben diese vielmehr schon im Jahr 2014 selbst getan, nachdem in der Westukraine ein von westlichen Mächten unterstützter Putsch faschistische Kräfte an die Macht befördert hat. Es handelte sich um Sezessionen zweier Landesteile, die sich aus eigenem Bestreben vom Rest der Ukraine abgespalten haben, gerade um nicht von den faschistischen Kräften beherrscht und unterdrückt zu werden, die, nach unzähligen Berichten, mit Gewalt gegen die russischstämmige Bevölkerung der Ukraine vorgehen. Entstehende Staaten müssen nicht von anderen Staaten anerkannt werden, um als vollwertige Staaten zu gelten. Denn das würde bedeuten, dass einige Staaten sich über andere erheben und in deren Angelegenheiten einmischen können, was nach der Charta der UN untersagt ist. Staaten existieren, sobald sie sich zu solchen erklären. Vor diesem Hintergrund handelte es sich bei Donezk und Lugansk von Anfang an um eigenständige Staatsgebilde, auch wenn die Ukraine dies aus nachvollziehbaren Gründen nicht anerkennen wollte, ebenso wenig wie der Westen. Das einzige, was Putin getan hat, war, einen de-facto Zustand als solchen auch juristisch anzuerkennen. Dies hat der Westen unterlassen, um genau die Situation, wie sie letztlich eingetreten ist, zu verhindern. Denn wenn sie die beiden Republiken anerkannt hätten, wäre ihr Recht auf Selbstverteidigung und ihre Unterstützung durch Russland ganz eindeutig legal gewesen und der Krieg in der Ukraine noch 2014 ad acta gelegt worden. Deswegen bewertet der Westen die Situation als innerukrainischen Konflikt. Völkerrechtlich ist das allerdings eher fragwürdig, vor allem nachdem einige Jahre verstrichen sind, in denen die beiden Volksrepubliken ihre eigenen, staatlichen Strukturen etabliert haben. Mit der Anerkennung hat Russland einen jahrelangen Schwebezustand — zumindest für sich — beendet. Die Verlegung von Soldaten war demzufolge vollkommen legal, wenn man die Situation durch die russische Brille betrachtet. Wie ist aber jetzt der Angriff auf den Rest der Ukraine zu beurteilen?

Heikle Militäraktionen

In den letzten Tagen und Wochen hat die Ukraine immer wieder Teile der beiden Volksrepubliken beschossen. Vor allem nach der Anerkennung durch Russland wurde der Beschuss, nach russischen Angaben, noch einmal intensiviert, wobei sich Geschosse auch auf russischen Boden verirrt haben. Das ist eindeutig ein Akt der Aggression seitens der Ukraine. Man stelle sich einmal vor, Frankreich beschieße aus dem Elsass heraus immer wieder Städte und Militärstützpunkte in Deutschland. Das Recht auf Selbstverteidigung in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen würde es erlauben, dass Deutschland zurückschlägt und die Geschütze zerstört. Das gleiche Recht gilt für die Volksrepubliken. Sie haben das Recht, auf die ukrainischen Aggressionen zu reagieren. Wenn sie dies nicht alleine schaffen, dann können sie andere Staaten um Hilfe bitten, und eben das ist geschehen. Um die beiden Republiken zu unterstützen und die Aggressionen zu beenden, hat Russland Soldaten in die Ukraine entsandt, die nun militärische Einrichtungen zerstören, um, wie Wladimir Putin es ausdrückt, die Ukraine zu entmilitarisieren. Im Gegensatz zu den Angriffen durch die Ukraine werden dabei — nach Berichten von beiden Seiten — Zivilisten nicht absichtlich beschossen. Artikel 51 der UN-Charta besagt zudem, dass Maßnahmen, die ein Staat zur Selbstverteidigung unternimmt, dem Sicherheitsrat anzuzeigen sind. Die beiden Volksrepubliken, die Russland um Unterstützung gebeten haben, sind jedoch keine Mitglieder der Vereinten Nationen und damit von dieser Regel grundsätzlich nicht betroffen. Ob Russland das getan hat, ist nicht klar. Da es nicht berichtet wurde, könnte man annehmen, dass eine solche Anzeige unterblieben ist. Fraglich ist aber auch, ob Russland diese Anzeige zu machen hat, da die beiden Volksrepubliken diejenigen sind, die zur Verteidigung um Hilfe gebeten haben.

Angriffskrieg

Zum Völkerrecht gehört auch das Völkerstrafrecht. Hier sind in den Römischen Statuten des Internationalen Strafgerichtshofes in Artikel 5, Absatz 1 die Verbrechen normiert, die eine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag rechtfertigen. Putin wird zumindest medial und politisch der Akt der Aggression vorgeworfen, also das Verbrechen eines Angriffskrieges. Wie bereits dargelegt, handelte es sich bei dem russischen Einmarsch in die Ukraine eher um einen Akt der Beihilfe zur Verteidigung der Volksrepubliken. Eine solche kann aber dann kein Angriffskrieg sein. Hinzu kommt, dass Russland kein Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofes ist. Zwar haben die russischen Vertreter den Vertrag unterschrieben, ihre Unterschrift aber, übrigens ebenso wie die USA, später wieder zurückgezogen. Das bedeutet, dass Russland an diesen Vertrag nicht gebunden ist. Putin kann somit nicht als Kriegsverbrecher in diesem Sinne bezeichnet werden. Neben dem Akt der Aggression stehen noch der Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unter Strafe. In Bezug auf diese kann bis jetzt, in dieser unübersichtlichen Situation, noch keinerlei Aussage getroffen werden. Hier vorschnell von Kriegsverbrechen, Völkerrechtsbruch oder dergleichen zu sprechen, ist im besten Falle unseriös, wahrscheinlich aber eher eine bewusste Stimmungsmache gegen Russland.

Vergebliche Warnungen

Zudem ist zu berücksichtigen, dass Russland seit 2014 immer wieder versucht hat, den Konflikt auf friedlichem Wege beizulegen. So hat Putin sich daran beteiligt, das Minsker Abkommen auszuhandeln, das einen Friedensprozess einleiten sollte. Die Umsetzung ist jedoch an der Ukraine sowie dem Westen gescheitert. Auch hat Russland immer wieder Gesprächsbereitschaft signalisiert, Verhandlungen angestrebt, wurde dabei jedoch ständig zurückgewiesen.
Erst in den letzten Tagen und Wochen vor dem Einmarsch hat Putin seine Warnungen in Richtung der Ukraine verschärft. Nach jahrelangen erfolglosen Verhandlungen und Gesprächsangeboten war das Kontingent der diplomatischen Maßnahmen erschöpft und wahrscheinlich auch der Geduldsfaden gerissen.
Nach acht Konfliktjahren hat Russland nun die letzte Option eines militärischen Gegenschlags gewählt. Dies auch, um einen Genozid an der Bevölkerung des Donbass zu beenden und einen großen Krieg zu verhindern, wie Maria Sacharowa, Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, sagte. Was man von diesen Aussagen hält, sei jedem selbst überlassen. Wie so oft kommt es bei der Frage der Völkerrechtswidrigkeit also auf die Perspektive an. Beim Blick durch die westliche und ukrainische Brille handelt Russland klar völkerrechtswidrig. Jedoch ist auch diese Sicht völkerrechtlich nicht eindeutig, da es sich bei den Volksrepubliken de facto um eigenständige Staaten handelt, die keiner Anerkennung bedürfen. Betrachtet man die Situation hingegen aus der russischen Sicht und jener der beiden Volksrepubliken, dann ist das Vorgehen Russlands legitim. Zudem ist abzuwarten, wie sich die Situation weiterentwickelt. Wenn Russland sich ähnlich verhält wie im Krieg gegen Georgien 2008, also der Ukraine nur die Möglichkeit für weitere Aggressionen nimmt und sich dann wieder zurückzieht, ist ein Völkerrechtsverstoß eher zu verneinen. Auch damals in Georgien hat Russland im Einklang mit dem geltenden Recht gehandelt. Bleiben jedoch russische Soldaten auf ukrainischem Territorium zurück und halten das Land besetzt, dann ist auch aus russischer Perspektive ein Verstoß gegeben. Derzeit jedoch ist ein solcher Verstoß nicht ohne weiteres zu konstatieren. Das könnte der Grund dafür sein, dass sich die NATO nicht dazu bereiterklärt, der Ukraine militärisch Hilfe zu leisten. Zudem wissen die Beteiligten, dass eine solche Unterstützung die Situation eher verschärfen und den Konfliktherd Ukraine auf die ganze Welt ausdehnen könnte. Das Aufheulen westlicher Kriegstreiber, die kein Problem damit hatten, Belgrad zu bombardieren, in den Irak, Afghanistan und Syrien einzufallen, ist daher eher politisch motiviert. Nun wird, auf dieser rechtlich fragwürdigen Basis, der übliche Reflex aus Sanktionen bedient, der Russland wirtschaftlich schaden soll, obwohl auch das schon in der Vergangenheit nicht funktioniert hat. Es wird moralisierend Stimmung gegen ein Land gemacht, das aus nachvollziehbaren Gründen seine Interessen verteidigt.
Aus rationaler Perspektive könnte man das Handeln Russlands verstehen. Das muss nicht heißen, dass man die Mittel gutheißt. Krieg und Gewalt sind ungeeignet, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Stattdessen müssen Konflikte mit friedlichen Mitteln beigelegt werden.
Wenn aber eine Seite friedliche Verhandlungen immer wieder ausschlägt und Menschen bombardiert, dann ist eine militärische Reaktion zumindest nachvollziehbar. Gleichzeitig besteht nach wie vor die Gefahr, dass der Konflikt zu einem dauerhaften wird, oder sich gar über die Grenzen der Ukraine ausdehnt. Beides ist nach allen Kräften zu vermeiden. Davon abgesehen verursacht natürlich auch ein lokaler Konflikt unfassbar viel Leid. Hoffen wir also, dass Russland die Ukraine schnell wieder verlässt, die Ukraine sich zur Neutralität bereiterklärt, und damit ein jahrelang schwelender Konflikt doch noch ein glimpfliches Ende nimmt.
Dieser Artikel erschien auf Rubikon am 01.03.2021 und ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.

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Ihr Thomas Schulze