Heimliche Grenzschließung und neuer Nationalismus
Letztlich käme dieser Vorstoß einer faktischen Schließung der Staatsgrenzen gleich, einem Grenzaufbau durch die Hintertür. Bezweckt wird offenbar die Errichtung von hohen Hürden für den grenzüberschreitenden Personenverkehr. Wer würde denn aus Deutschland noch ins Ausland reisen, wenn er damit riskierte, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu dürfen, wenn der Flug-, Bahn- und Busverkehr von heute auf morgen per Ministerialdekret verboten werden kann? Nicht nur das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit wäre massiv eingeschränkt. Die gesamte Gesellschaft würde immobilisiert werden, der Bewegungsradius der Menschen auf den nationalen Raum beziehungsweise auf die Herkunfts- oder Wohnregion schrumpfen. Unsere bis vor kurzem noch so weltoffene und hoch mobile Gesellschaft erführe dadurch eine nachhaltige Provinzialisierung, die an die beklemmenden Zustände in der ehemaligen DDR erinnert. Der (gesundheits-)polizeilich unterbundene Reiseverkehr ersetzt dann wirkungsgleich die Mauer und die Grenzanlagen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Damit eignet sich der Gesundheitsminister weitreichende Befugnisse im Bereich der Inneren Sicherheit und damit letztlich auch der Polizeiführung an, da Grenzkontrollen zu den Kernkompetenzen des Innenministeriums gehören. Ob Seehofer sich das gefallen lassen wird? Zu befürchten ist, dass nunmehr auch zwischen dem jetzigen Innenminister und Jens Spahn ein Überbietungswettbewerb um die härteste Linie stattfinden wird. Der „illiberale Verbotspopulismus“ (2), der die Pandemiepolitik bestimmt, würde weiter angeheizt werden — so lange jedenfalls, wie die Umfragewerte die neuen „starken“ Führer belohnen. Hinzu kommt, dass durch die amtlich verfügte Begrenzung des Bewegungshorizonts der Bürger auf den lokalen Raum der herkömmliche Alltagsnationalismus eine neue kognitive und gefühlsmäßige Färbung erhalten, das heißt zu einem „Bleiben-Sie-zu-Hause-Nationalismus“ (3) mutieren würde. Gerade die Kritiker von Globalisierung und europäischer Integration würden dadurch unerwartet einen starken Rückenwind erhalten, damit aber auch die rechten Kräfte in unserem Land. Die politische Programmatik der populistischen Neonationalisten, zu der die Aufrüstung der Staatsgrenzen, die Idealisierung der ethnischen Homogenität des Volkes und die politische Romantik der „Heimat“ ebenso gehören wie die Glorifizierung autoritärer politischer Führer, ließe sich mit Hilfe des Infektionsschutzgesetzes schleichend und lautlos verwirklichen. Es bedarf dann nicht einmal mehr eines „Staatsstreichs" seitens der Regierung. Das Grundgesetz wird einfach dem Infektionsschutzgesetz und der persönlichen Diktatur des Gesundheitsministers untergeordnet. Das kommt einer stillen Revolution gleich, einem Systemwechsel auf dem Verwaltungsweg.Stille Entsorgung der europäischen Migrationskrise
Nicht weniger einschneidend sind die Folgen der Machtergreifung des Bundesgesundheitsministers für Europa. Sie wirft den Integrationsprozess um Jahrzehnte zurück. Der Abbau der innereuropäischen Staatsgrenzen im Rahmen des europäischen Binnenmarktes und des Schengen-Vertrags ist seit Mitte der 1980er-Jahre die entscheidende Triebfeder des gesamten Projektes gewesen. Das „Europa ohne Grenzen“ gilt als das zentrale Symbol der politischen und gesellschaftlichen Einheit des Kontinents. Mit der faktischen Grenzschließung erlebt nicht nur die Tourismusindustrie, die auf Reisende und passierbare Grenzen angewiesen ist, einen irreversiblen Knock-out, was zahllose Arbeitsplätze vernichtet. Auch die bisher durch die Verträge der Europäischen Union (EU) garantierte grenzüberschreitende Reisefreiheit und die Personenfreizügigkeit werden ohne viel Federlesens ausgehebelt. Bisher als unveränderlich geltende EU-Grundnormen werden damit außer Kraft gesetzt, ohne Abstimmung unter den Mitgliedstaaten und ohne Beschlussfassung in den europäischen Gremien (4). Damit kommen wir zur Migrationsfrage. Auch diese wird nun indirekt, aber höchst wirkungsvoll durch das Gesundheitsministerium gesteuert, besser: gestoppt. Die durch das Infektionsschutzgesetz verfügte Unterbindung von Reisemöglichkeiten wirkt wie eine unsichtbare Barriere auch für potenzielle Zuwanderer. Im Windschatten der Pandemiebekämpfung entledigt man sich damit stillschweigend einer jahrelangen innenpolitischen Konfliktquelle: des Migrationsdrucks. Die Migrations- und Flüchtlingskrise der vergangenen Jahre wird in der Coronakrise gekippt. Potenziellen Zuwanderern ist der Weg nach Deutschland schlicht abgeschnitten. Dass dabei ebenfalls EU-Recht, nämlich die gemeinsame Asylpolitik, schlankerhand außer Kraft gesetzt oder umgangen wird, wird den eingefleischten Europagegnern ebenso entgegenkommen wie den von Fremdenhass erfüllten Neonazis.Der illiberale Überwachungsstaat als Erfüllungsgehilfe der Rechtspopulisten?
Vieles spricht dafür, dass die Pandemiebekämpfung zu einem fatalen Aufsaugen rechter und faschistoider Politikinhalte durch die staatliche Exekutive führt. So gut wie alle politischen Forderungen des rechtsradikalen Lagers erfüllt jetzt der Staat selbst, vom Autoritarismus der politischen Führer bis zu den Grenzschließungen, von der Rückbesinnung auf die Nation und die Ethnie bis zur Exklusion von Fremden. Es handelt sich um einen fundamentalen sozio-politischen Rechtsruck, der sich nicht mehr primär in Gestalt von extremistischen Bewegungen und Parteien wie etwa der Alternative für Deutschland (AfD) artikuliert. Letztere verlieren im Zuge der Pandemie — wie aktuelle Umfragen zeigen — eher an Wählergunst. Die regressive Radikalisierung ereignet sich jetzt im Zentrum des Staates selbst, vorangetrieben von der regierenden Elite. Heimtückischer könnte die aktuelle Transformation der Demokratie in einen autoritären Überwachungsstaat mit totalitären Zügen kaum sein. Mit seinem Vorstoß für eine Verstetigung des Infektionsschutzgesetzes agiert der Gesundheitsminister als Speerspitze einer politischen Dynamik, die den demokratischen Verfassungsstaat aufzulösen droht und einer modernen bio-politischen Verwaltungsdiktatur den Weg ebnen könnte.Quellen und Anmerkungen: (1) https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/sonderrechte-mehr-macht-fuer-spahns-ministerium-17009764.html. Der Referentenentwurf ist im Internet nicht auffindbar. (2) https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-10/corona-politik-demokratie-angela-merkel-regierung-pandemie-wolfang-merkel (3) Ivan Krastev: Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert, Berlin 2020, Seite 32 (4) Siehe Vertrag über die Europäische Union (Vertrag von Lissabon), Art. 3, Abs. 2
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